1. Die Gesetze der Natur sind die Fesseln der Phantasie.
  2. Nabelschauen verengen den Horizont.
  3. In Beziehungskisten fällt das Atmen schwer.
  4. Sprache ist eine Form der Musik.
  5. Selbst Goethe machte Urban Fantasy.
  6. Auch ein deutscher Autor darf Humor.

Prolog: Katikatze1.5

Das ist ja sehr schmeichelhaft für mich, Katikatze1.5, aber du solltest dich wirklich nicht in einen Drachen verlieben. Besonders, wenn du ihn nur aus seinem Weblog kennst. Weißt du, Katikatze1.5, eine Fünfzehnjährige und eine Reptilie, das hat doch keine Zukunft! Das ist doch nur so eine Schwärmerei! Wie damals deine Vorliebe für Rosarot und Prinzessin Lilifee. Ich meine, die anderen Mädchen in deinem Heim interessieren sich für Popstars und Babyrobben und Pferdehengste und du begeisterst dich jetzt eben für ein attraktives Sagentier. Das ist völlig normal, Katikatze, das geht vorbei!

Was mir langsam allerdings doch ein bisschen Sorge macht, ist, dass du immer noch das Gefühl hast, im falschen Körper zu stecken. Weil mir das früher als Mensch nämlich jahrelang ganz genauso ging. Mit 13 oder 14 fing das an, als meine Mitschüler ihre ersten Pickel bekamen und ich diese ekligen Warzen überall. Hunderte und Aberhunderte davon! Eines Morgens im Badezimmerspiegel waren die plötzlich da. So fette, rostrote Knubbel, in lauter parallelen Reihen, den gesamten Körper rauf und runter. Sah wirklich richtig scheiße aus, das kann ich dir sagen! Ich traute mich kaum noch aus dem Haus in der ersten Zeit. Und in die Schule mussten sie mich geradezu prügeln. Weil, die war dann natürlich der reine Horror für mich, das kannst du dir ja denken. Bloß mein Hautarzt, der war total begeistert. Der nannte mich sein kleines, medizinisches Wunder und piekte wochenlang an mir herum. Nur dass die Warzen, die er tagsüber verödet hatte, immer alle wieder zurückkamen über Nacht. Bis er irgendwann die Lust verlor und schnell noch diesen langen Artikel für die Dermatologie heute diktierte und dann behauptete, er könne nichts mehr für mich tun. Weil mein kleines Problem wahrscheinlich aus meiner gestörten Findelkind-Seele resultiere oder von weiß Gott wo her. Ehrlich, Katikatze, ich hätte diesen Nichtskönner am liebsten umgebracht! Und all die anderen Banditen in Weiß dazu!

Und gestunken haben diese Hautknubbel, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Wie ein magenkrankes Raubtier, haben meine Pflegeeltern immer gesagt. Und mich alle paar Stunden zum Duschen geschickt. Und nach ein paar Monaten dann zurück ins Heim. Weißt du, ich musste nämlich früher auch im Heim wohnen, Katikatze! Genau wie du jetzt. Allerdings nicht in der Psychiatrie.

Na ja, es bleibt eben nicht ohne Folgen, wenn eine Drachenseele sich in einen Menschenkörper verirrt. Was ich damals allerdings noch überhaupt nicht verstand, weil, das hat mir Lili nämlich alles erst sehr viel später erklärt. Ich meine, du weißt ja, sie ist eine Hexe. Sie kennt sich in solchen Sachen aus. Genauer gesagt, am Tag nach unserem Einzug ins Sodom & Gomorrha hat sie mir das alles erklärt. Als sie gerade mit nichts als ihrem fleckigen Laborkittel an auf dem Parkett ihres Arbeitszimmers hockte und diesen seltsamen Runenkreis um sich zog. Ich kann mich noch genau daran erinnern. Weil, wir Drachen vergessen nämlich nie etwas. Nicht einmal einen Geruch.

Es war einer dieser trüben, trostlosen Januarsonntage, draußen schneite es ganz leicht – dieser feine Schneegriesel, der mich als Mensch immer so trübsinnig gemacht hat –, drinnen standen noch überall halb ausgepackte Umzugskartons, Lilis Schwester Evi und ihre Kusinen polterten gerade in der Bar herum, wo sie die Scherben und Polsterfetzen und Metallteile und Holzstücke zusammenkehrten, die dort seit meiner angeregten Diskussion mit den Vorbesitzern verstreut lagen, und ich half Lili diese schweren Kisten und Kästen auszupacken, die ich in ihr Arbeitszimmer geschleppt hatte.

Was Nevermoire, Lilis weißer Rabin, allerdings alles überhaupt nicht gefiel, weil, die ist nämlich schon ein bisschen älter und verträgt diese ganze Umzugsunruhe daher nicht mehr so recht. Weshalb das dämliche Vogelvieh auch bei jedem lauten Rumpler oder Quietscher schimpfte und zeterte wie verrückt, was mit ihrer einschmeichelnden Marilyn-Monroe-Synchronstimme aber trotzdem noch ziemlich sündig klang. Und sie flatterte auch immer wieder hektisch zu den Stuckrosetten unter der Zimmerdecke empor – weil fliegen kann sie für ihre über 600 Jahre nämlich noch ganz gut – und hinterließ dabei sogar den einen oder anderen nervösen Vogelkleks auf dem Parkett. (Obwohl ihr das eigentlich schon seit ihrer Kükenzeit nicht mehr passiert ist, wie sie uns später ganz schuldbewusst erklärte.)

Worüber Lili sich aber nicht groß aufregte, und ich natürlich schon gar nicht, sondern wir räumten weiter die Pergamentrollen und ledergebundenen Folianten und ihre BWL-Fachliteratur in die Holzregale ein, die zu beiden Seiten des Kamins stehen. Wobei das eigentlich gar nicht so richtig zusammenpasst, diese zerfledderten, schwarzen Lederbände mit den quietschbunten Pappdeckeln der modernen Wirtschaftstheorie.

Was mir aber richtig ein bisschen unheimlich ist, das sind die bizarren, kleinen Gefäße, die ich mit Lili in die hässlichen Blechgestelle ringsum an den Wänden stellen musste: all diese exotischen, bunten Gläschen und Fläschchen und merkwürdig geformten Silbertöpfchen mit den grotesken Dämonenfratzen drauf, in denen sie die unzähligen Pülverchen und Sälbchen und nach gebrauchten Socken riechenden Essenzen aufbewahrt, die sie als praktizierende Hexe so braucht. Und all ihre getrockneten Pilze und Kräuter und toten Tierteile und Embryonen in Formalin noch dazu. Ich meine, ich weiß doch, was dieses Hexenzeug mit einem anstellen kann, Katikatze! Das habe ich ja alles schon am eigenen Leibe erlebt! Und so ein magischer Unfall, der ist nur allzu schnell passiert! Aber was ich denke, das interessiert hier natürlich keinen. Weil, ich bin ja nur der Wachdrache hier.

Jedenfalls war ich richtig ein bisschen erleichtert, als wir diesen magischen Krimskrams endlich säuberlich nach Kategorie und Anfangsbuchstaben geordnet und in die Blechgestelle einsortiert hatten. Hat fast den ganzen Nachmittag gedauert, bis wir damit fertig waren. Es wurde schon langsam dunkel draußen. Und als ich die letzte, leere Holzkiste rausgetragen hatte und die Trümmer aus der Bar allesamt im Container verstaut waren und Lili nur noch eben Nevermoires Vogelklekse vom Parkett wischte, da entspannte sich langsam auch die dämliche Rabin wieder. Da flatterte sie zu Paule, Lilis ausgestopftem Krokodil, empor, der gerade hoch über dem antiken Mahagoni-Schreibtisch schwebte, hockte sich auf seinen schuppigen Rücken, wie sie das so gerne tut, und kroahte wieder ganz vergnügt.

Dann trat Lili an ihre riesige, geflieste Arbeitsplatte, die direkt vor den bunten Butzen des Erkerfensters steht, knipste die kleine Arbeitsleuchte an – weil, es wurde ja schon ziemlich schummrig im Raum – und rührte so eine eklige, nach Lebertran und Anis stinkende Spezialpolitur zusammen. Was von der Tätigkeit her zwar eher langweilig war, den silberhaarigen Herrn Weizmann vom ersten Stock schräg gegenüber aber trotzdem mächtig interessierte, so angestrengt, wie der an seinem Schlafzimmerfenster klebte und auf sie herabstarrte.

Aber Lili, die ist ja geschäftstüchtig, Katikatze, das weißt du ja. Weshalb die auch gleich die Gelegenheit nutzte ein bisschen für das Sodom Werbung zu machen und ganz beiläufig ihre neongrüne Latexkluft abstreifte – was übrigens gar nicht so einfach ist, beiläufig deine knallenge Latexkluft abzustreifen, wenn du diese beeindruckenden Vorsprüngen vorne vor der Brust hast und ein bisschen auch hinten am Po, das kann ich dir sagen! – und Herrn Weizmann zeigte, dass sie darunter fast nie etwas trägt.

Und als der arme Mann sie da so nackt und bloß vor ihrer Arbeitsplatte stehen und sich langsam die kupferroten Locken hochbinden und ihren hochgewachsenen Leib aufreizend hin und herdrehen sah, drückte er sich an seinem Fenster dermaßen die Nase platt, dass ich schon dachte, er knallt gleich aufs Straßenpflaster herab. Was er dann aber zum Glück doch nicht tat. Weil ihm nämlich plötzlich eine zusammengerollte Illustrierte aufs schüttere Haupt knallte und sich ein fetter Ellenbogen um seine Gurgel schloss und ihn zurück ins Dunkel seines Schlafzimmers zog.

Da funkelten Lilis verschattete, grüne Augen plötzlich ganz vergnügt und sie lächelte sogar fast ein bisschen. Was sie sonst nur ganz selten tut, fast ein bisschen lächeln. Dann schlüpfte sie wortlos in ihren knappen Laborkittel, hockte sich vor den Schreibtisch und begann das Parkett mit dieser ekligen Fischöl-und-Anis-Paste zu bearbeiten, die sie inzwischen fertiggerührt hatte. Weil, da sollte der Runenkreis, von dem ich eben sprach, nämlich hin, auf das Parkett vor ihrem riesigen Mahagoni-Schreibtisch. Weshalb ich auch noch mal schnell in den Werkzeugkeller flitzen musste, die Spezialfarbe holen, die sie extra bei diesem Online-Shop in Amsterdam bestellt hatte, weil, für einen magischen Kreis kann man ja nun wirklich keine x-beliebige Ölfarbe aus dem Baumarkt nehmen, Katikatze, das ist ja wohl klar. Aber was dann passierte, das war schon ziemlich krass, selbst für so ein verrücktes Hexenhaus wie unseres!

Weil, als ich die beiden Halbliterdosen aus dem Regal nahm, da gluckste das Giftgrün zwar nur ein bisschen, wie es gewöhnliche Farbdosen gerne mal tun, das Blassgold jedoch, das fing unter seinem glitzernden Blechdeckel deutlich hörbar zu seufzen und zu stöhnen an. Was mich dann doch ein bisschen neugierig machte, Katikatze, das kannst du dir ja denken. Daher schüttelte ich diese seltsame Farbdose auch gleich mal ordentlich hin und her, nur so zur Probe. Doch als ich das tat, wurde das Gestöhne immer heftiger und hitziger, bis es fast wie Mona klang, wenn die mal wieder einen Höhepunkt simuliert. Woraufhin ich diese abartige Farbdose beinahe in einem sonnenheißen Feuerball verglüht hätte, Katikatze, ehrlich! Weil, ich meine, gefühlige Farbe, also wirklich! Aber wir Drachen sind ja zum Glück sehr selbstbeherrscht, das weißt du ja. Daher ließ ich das natürlich trotzdem sein.

Und als Nevermoire sah, wie ich mit diesem lustvoll stöhnenden Blechtopf in der Vorderhand zurück in Lilis Arbeitszimmer kam, da fingen ihre roten Albino-Augen gleich ganz gierig zu glühen an und sie zuckte mit der Schwanzfeder und segelte mit Paule zu mir herab. (Weil, mehr braucht es nämlich nicht, um so ein schwereloses Krokodil zu steuern, einen sanften Flügelschlag.) Und mir kam nicht zum ersten Mal der Verdacht, dass hinter ihrer flachen Stirn eine ziemlich gestörte Spannerseele wohnt.

Aber Lili, die gab mir bloß einen freundlichen Klaps auf die Nase und kümmerte sich nicht groß um das perverse Federtier, sondern sie kippte die beiden kleinen Dosen einfach wortlos rechts und links von sich aufs Parkett. Und sie ignorierte die Pinsel, die ich ihr hinhielt, genauso wie das Gestöhne der Goldfarbe, die ohne ihren Deckel jetzt völlig enthemmt klang. Dann faltete sie die langen Beine zusammen, sagte mit geschlossenen Augen ein paar endlos lange Zauberformeln auf – keine Ahnung, welche Sprache sie beim Hexen spricht, aber sie klingt immer ein bisschen nach knurrendem Pitbull dabei – und sie zeichnete auch die ganze Zeit diese komplizierten Muster in die Luft.

Woraufhin die beiden zähen Farbpfützen zu ihren Seiten richtig lebendig wurden. Doch während das Giftgrün bloß still und stumm ein bisschen ihren nackten Po umschmeichelte – weil, Lilis Laborkittel, der ist nämlich wirklich ganz schön knapp, besonders wenn sie so im Schneidersitz dasitzt – und dann um ihr rundes Gesäß herum ratzfatz diese meterlangen Fünfeck-Linien zog, stöhnte das Blassgold die ganze Zeit theatralisch vor sich hin und kroch blubbernd und rülpsend um das Pentagramm herum, bis es das in einen dicken Goldkreis eingeschlossen hatte. Und es wuchsen rings aus der ächzenden Kreislinie auch noch überall diese feinen, ineinander verschlungenen Runen hervor und bildeten eine richtige, magische Inschrift aus, die außer Lili aber kein Mensch lesen kann, ehe die neurotische Farbe jäh verblasste und dann endlich auch verstummte, zum Glück. (Zumindest bei Tage, heißt das, weil nachts, wenn das Mondlicht darauf fällt, dann fangen diese Runen nämlich immer ganz mystisch zu flüstern und zu glühen an. Richtig unheimlich ist das, selbst für einen Drachen wie mich.)

Und als Lili die Augen wieder öffnete, wirkte das Grün darin noch verschatteter als vorher und ein paar schweißnasse Haarsträhnen baumelten ihr vor der hohen Stirn und ihr makelloses Göttinnen-Gesicht zeigte richtig ein paar tiefe Furchen, als hätte diese magische Malerei doch gewaltig an ihr gezehrt. Dann fuhr sie mit dem grün lackierten Zeh seufzend eine Spitze des Pentagramms entlang, die schon komplett getrocknet war, und fing zu erzählen an: von der Feuernatur der Drachen und unserer höheren Bestimmung, der Großen Wanderung, unserem plötzlichen Verschwinden und von uralter, weiblicher Magie. Und sie erklärte mir auch lang und breit, wie man zu den höheren Daseinsebenen gelangt, was man da soll und wie und warum ein Runenkreis manchmal dabei hilft. Aber das war alles dermaßen unklar und verworren formuliert, dass ich von ihren Worten kaum etwas verstand.

Dann machte sie eine dramatische Pause und ihre dunkle Stimme klang sogar noch ein wenig rauer als sonst, als sie mir endlich erklärte, was ich mich in den letzten Wochen auch selbst schon immerzu gefragt hatte, nämlich wieso sich meine Drachenseele eigentlich in so einen erbärmlichen Menschenkörper verirren konnte, damals, an diesem nebligen Neujahrstag, achteinhalb Monate vor seiner Geburt. (Obwohl der da natürlich noch gar nicht richtig ein Körper war, sondern mehr so ein winziger Zellknubbel.) Aber was Lili mir genau erzählte, Katikatze1.5, das ist wirklich dermaßen peinlich für mich, das verrate ich hier lieber nicht öffentlich!

Außerdem flattert mir auch gerade Nevermoire auf die Schulter und pickt in meinem Ohr herum, obwohl sie genau weiß, dass ich das nicht ausstehen kann. Und sie sagt, ich soll dir ausrichten, dass so eine dämliche Körperverwechslung höchstens einmal alle 1000 Jahre geschieht. Und wenn, dann nur einem unterbelichteten Männchen wie mir. Ganz schön sexistisch für ein Tier, findest du nicht? Selbst wenn es nur ein Weibchen ist.

Hier, ich lade dir und allen anderen, die es interessiert, mal diesen Videoclip von ihr hoch, wie sie auf Paules Rücken quer durch unsere Bibliothek fegt. Damit jeder von euch sehen kann, dass es weiße Raben wirklich gibt. Und schwebende Krokodile. Anders als diese dämlichen Logiklehrbücher immer behaupten. (Und jetzt frag nicht, was ich über Logiklehrbücher weiß, Imm@nuel! Ich habe nämlich nicht nur 8 ½ Wochen BWL studiert, bis zu meiner Verwandlung, sondern fast ebenso lange Philosophie!) Nevermoires rote Albino-Augen glühen übrigens wirklich so. Das ist kein Blitzlicht-Effekt! Fast ein wenig dämonisch, findet ihr nicht? Besonders, wenn es dunkel ist.