1. Die Gesetze der Natur sind die Fesseln der Phantasie.
  2. Nabelschauen verengen den Horizont.
  3. In Beziehungskisten fällt das Atmen schwer.
  4. Sprache ist eine Form der Musik.
  5. Selbst Goethe machte Urban Fantasy.
  6. Auch ein deutscher Autor darf Humor.

„Und wir sind wirklich alle tot?“, fragte K. „Jeder einzelne in diesem Zug?“

Die vornehme Verstorbene vom Sitzplatz gegenüber zupfte einen Fussel vom Ärmel ihres blasspurpurnen Begräbniskleides. Die Perlen an ihrem faltigen Hals schimmerten herablassend. „Nur dass wir uns hier für gewöhnlich nicht so gehen lassen. Hätten Sie sich das da“, sie deutete missbilligend auf die klaffende Schusswunde in K.s Schläfe, „nicht retouchieren lassen können? Mein Edgar zum Beispiel, dem ist einer seiner halbfertigen Marmorblöcke auf den Schädel gekracht. Und sieht man ihm das etwa an?“ Sie tätschelte das Knie des kräftigen Alten an ihrer Seite.

„Sehr richtig, liebe Gertraude.“ Der in einen schwarzen Seidenanzug gehüllte Steinschlagtote nickte so heftig, dass ihm die grauen Künstlerlocken über die hohe Stirn tanzten. „Und dann noch diese billige Zwangsjacke. Also wirklich, Herr …!“. Er zog ein kupferfarbenes Büchlein aus K.s Brusttasche, warf einen verwunderten Blick darauf. „Herr K.?“

„Hier in der ersten Klasse sterben wir nämlich mit Stil!“ Die alte Dame schob ihr von violetten Strähnen durchsetztes Grauhaar zurück, bedachte K.s blutverschmierte Jeans mit einem vielsagenden Blick. Ihre hohen Wangenknochen, die verwitterten Reste des feingezeichneten Gesichts ließen ihre frühere Schönheit noch erahnen. „Schon erstaunlich, dass man Sie nicht im Viehwaggon reisen lässt. Sie müssen sehr einflussreiche Freunde haben!“

Freunde? Im Jenseits? Sollte das ein Scherz sein? K. grub in seinen Erinnerungen. Eine wirre Folge von Worten und Bildern, ohne Zusammenhang und Sinn.

Der Zug ratterte über eine Folge altersschwacher Weichen, schüttelte K.s gefesselten Oberkörper in den abgewetzten Polstern hin und her. Die engen Riemen der lackschwarzen Zwangsjacke schnürten seine Brust ein, schnitten tief in seinen Schritt. Die Lüftungsschlitze unter dem fleckigen Fenster würgten süßlich riechende, stickig-heiße Luft hervor. Schweißtropfen rannen über seinen Rücken.

Wenn er wirklich tot war, wieso schien dann alles so real?

Er blickte hilfesuchend in das verlebte Gesicht des Erste-Klasse-Toten. „Wer hat mich erschossen? Und warum bin ich so verschnürt?“

„Wissen Sie denn gar nichts mehr, Mann?“ Die Furchen in dem fleischigen, von Ausschweifungen gezeichneten Gesicht des Bildhauers vertieften sich. Er blätterte kopfschüttelnd in K.s kupferfarbigem Büchlein.

„Verrückt! Hier sollten eigentlich all Ihre Leben und Tode verzeichnet sein.“

„Was?“

„Verrückt. Das ist alles, was in Ihrem Lebensbuch steht. 133 Seiten lang nur dieses eine Wort.“ Der verlebte Tote schob das Büchlein in K.s Jackentasche zurück. „Na, wenigstens erklärt es die Zwangsjacke.“

„Mein Lebensbuch?“

„Haben Sie selbst das vergessen?“ Die Dame im Purpurkleid rümpfte die feine Nase ob so viel niederklassigen Unverstands. „Ihr Beleg für die hiesigen Behörden, Herr K. Und für die allgegenwärtigen Polizeiteufel. Ihr Pass sozusagen. Falls Sie noch wissen, was das ist. Also verlieren Sie ihn besser nicht. Sonst beginnen Sie ihre nächsten Leben wieder als Grashalm.“

„Soll das heißen, wir leben mehr als einmal?“

„Und so etwas stirbt 1. Klasse!“ Die purpurne Tote blickte resigniert hinaus. „Hoffentlich bekommen wir diesmal wenigstens unsere verdiente Plus-Existenz“, fügte sie nach einer Weile hinzu. „Nicht wahr, Edgar, die letzten Urteile waren ja doch ein wenig zweifelhaft.“

Eine öde, wolkenverhangene Heidelandschaft zog am Abteilfenster vorüber. Hier und dort ein Wacholderstrauch.

„Aber wenn ich wirklich tot bin“, insistierte K., „warum kann ich Sie dann noch sehen und hören und mit Ihnen sprechen? Das ist doch nicht normal.“

Der Bildhauer zuckte die Achseln. „Die Macht der Gewohnheit, nehme ich an. Und was das Sehen anbelangt …“ Er hielt K. seinen Ellenbogen vor die Nase.

Der starrte auf den schwarzen Seidenstoff. Das Purpurkleid der Luxusdame. Den weißen, halb offenen OP-Kittel der dunkelhaarigen Frau, die neben der Abteiltür sporadisch vor sich hin wimmerte. Und begriff. Die Farben! Sie waren viel zu blass! Wie von einer feinen Schimmelschicht bedeckt! Nicht einmal der Lippenstift der alten Dame brachte es über ein zartes Altrosa hinaus. Und das war der mit Abstand kräftigste Farbton hier.

„Wo fahren wir überhaupt hin?“

„Wohin kann man im Jenseits denn schon groß fahren?“, schnappte die Frau. „Natürlich zum Jüngsten Gericht.“

„Aber …“

Die Abteiltür flog auf. Eine kräftige, schwarzuniformierte Polizeiteufelin mit langen Hörnern auf dem Ziegenkopf nickte dem Ehepaar zu, ließ sich auf den Sitz neben K. fallen. „Na, sind wir auch brav gewesen?“, brachte sie krächzend hervor. Ihr Gummiknüppel strich beinahe zärtlich über K.s wirres, blutverkrustetes Haar.

Wieder rumpelte der Zug über eine Folge holpriger Weichen. Die straff geschnürte Zwangsjacke nahm K. den Atem. Zum Jüngsten Gericht? Er sah beklommen hinaus. Blassgelber Wüstensand hatte das Heidekraut ersetzt. Durch die flachen Dünen schlängelte sich ein glitzernder Strom. „Recht abwechslungsreich hier, die Geographie.“

Die Bremsen kreischten jäh. K. wurde auf den Schoß der alten Dame geschleudert.

„Wüstling!“ Ihre welken Wangen schlackerten empört. „Dass man so einem wie Ihnen überhaupt das Sterben erlaubt!“

„Lässt du wohl die feinen Leute in Ruh?“ Der Polizeiknüppel traf K. hart im Genick. Die Teufelin riss ihn auf seinen Sitz zurück.

K. drückte den schmerzenden Hinterkopf in das verfilzte Kopfpolster, sah zu, wie sich ein lang gestreckter, von Flugsand bedeckter Bahnsteig in die öde Wüstenlandschaft schob. Über dem Eingang eines altersschwachen Wellblechhäuschens hing ein rostiges Schild: Biblis – Sahel.

„Nothalt!“ Die Polizeiteufelin deutete auf die fahlgelbe, wie eine von innen beleuchtete Eiterbeule schimmernde Blase am Horizont, in der die Schemen eines Kühlturms zu erahnen waren. „Da, der alte Atommeiler in Biblis. Paff, einfach so explodiert! Habe ich gerade auf dem Gang gehört. Der ist jetzt so tödlich, dass man ihn sogar vom Jenseits aus sieht. Herrlich, nicht?“ Die braunen Ziegen­augen strahlten vor Glück. „Daher haben sie Biblis auch spontan in den Sahel verlegt. Samt einem großen Stück Mittelrhein. Und uns hierher umgeleitet. Ihr habt das grässliche Geruckel ja bestimmt bemerkt.“

Eine Atomkatastrophe, deren Spuren man bis ins Jenseits sah? K. spürte, wie die Kälte durch das Loch in seiner Schläfe kroch. Vom blechernen Bahnhofsgebäude zog sich eine endlose Schlange von Toten über die Dünen bis zu der strahlenden Eiterbeule am Horizont: dürre Afrikaner und bauchige Mitteleuropäer in bunter Folge. Nur dass die Europäer ebenso fahlgelb leuchteten wie der Meiler, aus dem sie kamen, während die Afrikaner allenfalls ein wenig schimmerten. Offenbar waren sie nur leicht kontaminiert.

„Die kommen doch alle in den Viehwaggon, oder?“ Die Stimme der alten Dame klang schrill. „Ich meine, dieses gelbe Leuchten, das ist doch bestimmt nicht gesund.“

„Dauert ja ewig, bis die alle verladen sind.“ K. blickte zur Abteiltür, vor der plötzlich eine hochgewachsene Frau im blassblauen Lederanzug stand und ihn aufmerksam ansah. Ihr flammend rotes Haar, die grünen Augen, selbst das Hellbraun ihrer Sommersprossen wirkte neben den fahlen Jenseitsfarben bemerkenswert vital. Trotzdem schien niemand seiner Begleiter die lebensvolle Frau zu sehen. Ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte, drückte einen Kussmund auf das fleckige Glas.

„Ewig?“ Die Teufelin lachte auf, schnippte mit den Fingern. „Sieh noch einmal hin!“

K. sah noch einmal hin. Die toten Seelen waren verschwunden. Die Rothaarige auch. Er grub in den Scherben seiner Erinnerung. Nein, von der Frau in Leder keine Spur.

„Ja, sehr lange kann hier ziemlich kurz sein“, bestätigte der Steinschlagtote. „Und sehr wenige sehr viel. Oder umgekehrt. Wenn man tot ist, verhalten sich Raum und Zeit manchmal recht exotisch.“

Die junge Frau im OP-Kittel begann plötzlich zu kreischen. Ihre blassbraunen Augen starrten ins Leere. „Um Himmels willen, schaltet doch endlich diese schrecklichen Apparate aus! Mama! Michael! Hört ihr mich denn nicht?“

„Was hat die denn?“, fragte K.

„Katrin, unsere Geisterfahrerin?“ Die Purpurfrau tippte sich an die Stirn. „Diese hysterische Person sitzt schon seit einigen Zyklen in unserem Abteil fest. Die eine Hälfte von ihr jedenfalls. Die, die schon hier ist. Weil die andere nicht von den Maschinen an ihrem Krankenhausbett loskommt. Steht alles in ihrem Lebensbuch.“

„Sie hat nämlich früher gegen die Legalisierung der Sterbehilfe gekämpft“, erläuterte der Bildhauer. „Und jetzt, wo sie sterben will, da darf sie nicht.“ Ein breites Grinsen breitete sich über sein verlebtes Gesicht. „Scheint, als besitze unser Hohes Gericht doch ein wenig Humor.“